Wie ist mit Open Science umzugehen?
Das Thema Open Science und Replikationskrise1 beziehungsweise Vertrauenskrise ist aus mehreren Gründen schwer kommunizierbar: Zuerst einmal ist es harte Kritik an der Wissenschaft und dem Wissenschaftssystem, die dazu missbraucht werden kann, wissenschaftliche Befunde kleinzureden und das Vertrauen in Wissenschaft insgesamt gefährdet. Mithilfe der hier präsentierten Argumente und Befunde lassen sich zum Beispiel auf Wissenschaft beruhende politische oder individuelle Entscheidungen kritisieren. Dagegen sei gesagt: Weitaus nicht alle wissenschaftlichen Befunde sind “falsch” oder nicht replizierbar. Bei vielen Punkten herrscht immer noch ein großer Konsens, Wissenschaftler*innen sind sich also einig in Bezug auf die Wahrheit der Befunde.
Auf der anderen Seite gehen die hier diskutierten Probleme über das hinaus, was sich ganz natürlich in fast jedem wissenschaftlichen Zweig wiederfindet. Denn je genauer man hinschaut, desto wahrscheinlicher ist es, dass ein wissenschaftlicher Befund relativierbar ist. Widersprüche oder Konflikte lassen sich überall finden, treten natürlicherweise auf, und werden von Wissenschaftler*innen ins Visier genommen. Jede*r Forschende kann berichten: Bei genauerem Hinschauen bleibt nichts schwarz oder weiß, sondern zerfließt in viele Grautöne. Bei den im Folgenden behandelten Replikationsfehlschlägen handelt es sich um mehr als die wissenschaftsinhärente Ungewissheit: Sie gefährden gesamte Wissenschaftsstränge.
Bevor wir in die Details fortschreiten, ist es außerdem wichtig festzuhalten, dass aktuell (Herbst, 2023) die meisten der in diesem Buch besprochenen Probleme noch nicht oder erst teilweise gelöst wurden und auf wöchentlicher Basis heiß diskutiert werden. Nach einem Jahrzehnt der Open Science Bewegungen ist ein Punkt erreicht, an dem die meisten Wissenschaftler*innen ein Bewusstsein über das Problem entwickelt haben. Einige sind mit Lösungsansätzen vertraut, doch haben sich diese weder komplett durchgesetzt, noch ist klar, welche Probleme überhaupt bereits gelöst worden sind.
Ich verstehe Open Science als eine große Trigger-Warnung, die vor die Sozialwissenschaften vorgeschaltet sein sollte und lautet: Achtung, wir haben hier gerade sehr große Probleme. Es ist gut möglich, dass die Hälfte von allem, was wir zu wissen glauben, schlichtweg falsch ist. Meinungen über die Open Science-Bewegung sind aber keineswegs homogen: Es lässt sich hier ein Spektrum spannen zwischen “Sollen wir wirklich die nächsten 20 Jahre damit verbringen, herauszufinden, welche Erkenntnisse der letzten 100 Jahre korrekt sind? Fangen wir doch einfach nochmal bei Null an.” und “Eigentlich ist das ganz normal, ich sehe keinen Grund, hier von einer ‘Krise’ zu sprechen”.
Besonders groß ist das Problem bei Lehrbüchern: Stellen Sie sich vor, sie haben ein Buch über einen Teil der Psychologie (Aushängeschild ist hier oft die Sozialpsychologie) verfasst, das auf Jahrzehnten an Forschung besteht, hunderten Veröffentlichungen, und tausenden Studien. Hier hilft es kaum, das Buch komplett zu ignorieren. Praktikabel, alle Studien selbst zu replizieren, ist es allerdings auch nicht. Klar ist den meisten Wissenschaftler*innen hierbei: So wie es bisher gelaufen ist, kann es nicht weitergehen. Eine fünfzig prozentige Garantie für wissenschaftliche Erkenntnisse sollte nicht der Anspruch von etwas sein, das sich Wissenschaft nennt. Von vorne müssen wir aber auch nicht starten.
Mit “Science” sind im Englischen nur die Naturwissenschaften gemeint, weshalb der “Open Science” streng genommen die Geisteswissenschaften ausschließt. Während im Englischen deshalb häufig alle gemeinsam mit “Science and Humanities” angesprochen werden, wird im Bezug auf Open Science häufig auf den Begriff “Open Scholarship” (deutsch: Gelehrsamkeit, Schülerschaft) ausgewichen (Parsons u. a. 2022).
Weiterführende Informationen
- Reaktionen verschiedener Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs) auf die Stellungnahme des Vorstands aus einem Diskussionsforum sind online nachlesbar: https://replicationindex.com/wp-content/uploads/2022/12/DGPs_Diskussionsforum.pdf
Damit ist die Tatsache gemeint, dass ein Großteil der veröffentlichten Replikationsstudien (also Studien, die Bekanntes erneut prüfen) zu anderen Ergebnissen kommt, sich Original-Studien also nicht replizieren lassen (siehe auch die folgenden Kapitel zur Geschichte und Inventur).↩︎